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Chemotagebuch – Tag 105 – 04.09.2016

Es gibt immer noch Momente in denen ich einfach nicht mehr wollen will. Momente größter Anspannung. Momente der Schwäche.

Doch gerade in diesen Momenten steckt eine sehr tiefgreifende Erkenntnis, nicht nur Erkenntnis für den Verstand sondern ein tiefgreifendes Erlebnis.

Diese Momente der Schwäche und Verzweiflung sind da, ob es mir passt oder nicht. Und ich muss sie durchleben. Ob es mir passt oder nicht. Weglaufen zählt nicht. Nicht nur das… Weglaufen ist schlicht und ergreifend nicht möglich!

Es gibt kein Entrinnen.

Das ist eine seltsame Konstellation irgendwie. Denn einerseits wird mir meine Hilflosigkeit völlig bewusst. Meine Machtlosigkeit. Meine Ohnmacht (=> ohne Macht zu sein).

Aber andererseits ist das auch irgendwie befreiend. Es fällt ein Druck von mir ab. Denn wenn ich ohnehin keine Macht drüber habe, dann kann ich es auch einfach akzeptieren.

Das entspannt dann den Moment, diese Momente des nichtmehr wollen wollens.

Ich lass dann einfach alles „über mich“ hinweg schwappen sozusagen. Von „außen“ könnte man dann sogar den Eindruck gewinnen ich habe wirklich aufgegeben. Doch in Wahrheit sammle ich nur neue Kräfte

Und so kann es von „außen“ auch insgesamt gerade so aussehen als sei dies eine Phase der Stagnation und des Stillstandes. In Wirklichkeit passiert „in mir“ jedoch gerade eine ganze Menge.

Es löst sich vieles, nach und nach. Ich kann so nach und nach mit einigen Dingen wesentlich entspannter umgehen. Nicht von jetzt auf gleich. Nicht von heut auf morgen. Eher von Situation zu Situation. Wie ein Muskel den man trainiert, der ist ja auch nicht von heut auf morgen gewachsen…

Körperlich macht mir die Chemo zunehmend zu schaffen. Ich habe förmlich das Gefühl mich von innen aufzulösen, das ist schwer zu begreifen. Mein Haut wird immer dünner. Das Wort das mir dazu regelmäßig in den Sinn kommt ist „Pergament“. Alt und brüchig, gleichzeitig aber noch geschmeidig. Jedoch abbauend.

Ironischer Weise ist Pergament ja aus Tierhaut gemacht, mein Unterbewusstsein ist ein Schelm.

Auch kräftetechnisch baue ich kontinuierlich ab. Konditionell. Ich werde „brüchig“, physisch instabil. Psychisch hingegen stabilisiere ich mich gerade, auch wenn es wie gesagt von „außen“ anders aussehen mag. Denn auch diese Momente der Schwäche können zur Stärke führen, je nach dem wie ich damit umgehe. Indem ich diese Schwäche endlich annehme. Und ich meine an der Stelle auch Charakterschwäche, vor allem Charakterschwäche!

„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“ So sprach es ein großer weiser Mann einst. Doch Tatsache ist, ich bin phasenweise weder edel noch hilfreich noch gut. Es gibt Momente in denen ich diesem Ideal nicht treu sein kann, aus jeweils verschiedenen Gründen.

Doch statt mich dafür zu verachten beginne ich nun dies erst einmal zu akzeptieren.

Genau an dieser Stelle gibt es im Moment auch sehr großes Konfliktpotential in der Interaktion mit meiner Außenwelt. Denn um wirklich zu „erfahren/erleben“ wie es sich anfühlt kein Arschloch sein zu wollen, muss man erstmal Arschloch gewesen sein und sich dann mies fühlen. Erst dann kann sich aus dieser Erfahrung etwas Neues ent-wickeln (auswickeln).

Und dieses „Neue“ ist das Zwischenziel, da geht die Reise hin. In Wirklichkeit ist dieses „Neue“ (gelobte Land) nichts wirklich Neues. Im Gegenteil, es ist das Älteste was überhaupt existiert. Es ist das was uns in Wirklichkeit ausmacht, das was ich wirklich bin…

Wenn man diese Zeilen so liest könnte man das auch für esoterisches Geschwafel halten, ich verbinde damit im Moment allerdings ganz konkrete Erlebnisse und Erfahrungen.