Chemotagebuch – Tag 58 – 19.07.2016

Die Tagebucheintragungen werden weniger… Doch ich bleibe am Ball.

Ich befinde mich gerade in einer Phase der „Neuordnung“. Das ist schwer in Worte zu fassen. Viele alte Muster und Glaubenssätze drängen sich nun in den Vordergrund und wollen bewusst betrachtet werden. Viele dieser Muster und Glaubenssätze sind längst überholt, gehören eigentlich gar nicht (mehr) zu mir.

Was bedeutet das konkret? Von welchen Mustern schreibe ich hier. Was soll das bedeuten?!?

Das bedeutet, dass ich mich grundsätzlich in Frage stelle. Es bedeutet dass ich beobachte wie ich in bestimmten Situationen reagiere. Warum macht mich dieses oder jenes wütend? Warum rege ich mich über dies oder jenes auf? Welche Knöpfe werden da gedrückt?

Sind diese Reaktionen Automatismen, passieren also völlig eigenständig, automatisch? Habe ich also keinen Einfluss darauf wie ich reagiere?

Oft kommt es mir wirklich so vor.

Vor allem „negative“ Reaktionen habe ich scheinbar nicht wirklich unter Kontrolle. Wutausbrüche beispielsweise. Es ist oft so, dass ich in bestimmten Situationen immer gleich „schlecht“ reagiere.

Das blöde daran ist nur, dass es mir hinterher oft leid tut.

Daran erkenne ich, dass dieses alte Reaktionsmuster nicht zu mir gehört.

Da läuft irgend ein Programm ab, und in dem Moment selbst habe ich oft keinen Einfluss darauf.

Daran arbeite ich seit ein paar Monaten intensiver. Ich bin dabei diese Programme zu entlarven. Mich anzunähern, quasi von hinten durch die Brust ins Auge…

Denn es ist ja so, dass ich mich nur „von hinten“ annähern kann. Will heißen, es geschieht und ich schärfe meine Achtsamkeit und bemerke dass gerade dieses oder jenes Programm abläuft. Zu spät, weil die Situation schon geschehen ist.

Doch statt mich darüber zu ärgern, dass ich es wieder nicht hinbekommen habe anders zu reagieren, lerne ich gerade mich dafür zu bedanken, dass ich es überhaupt mitbekomme.

Und beim nächsten Mal fällt es mir etwas früher auf. Immer noch zu spät, weil die Situation schon abgelaufen ist, aber immerhin etwas näher dran als vorher.

Dann häufen sich die Situationen wo ich schon in der Situation selbst realisiere, dass ich gerade dabei bin in ein altes Muster abzudriften. Zwar kann ich noch nicht über meinen Schatten springen um es einfach anders zu machen, aber immerhin wird mir das alte Muster nun schon in der Situation selbst bewusst.

Im nächsten Schritt ist mir schon vor der Situation bewusst, dass gleich dies oder jenes passieren könnte und ich kann mich entsprechend darauf vorbereiten und dann ggf. anders mit der Situation umgehen. Das meine ich mit „von hinten annähern“.

Es ist ein langwieriger Prozess. Es ist ein kräftezehrender Prozess.

Doch es ist gerade wichtig für mich. Welchen Sinn soll das Leben sonst haben?

Chemotagebuch – Tag 4 – 26.05.2016

Tag 4 – 26.05.2016

Gestern war ein aggro-Tag. Solche Tage gibt es. Sie fangen schon scheiße an. Ich bin sehr leicht reizbar, rege mich über alles und jeden auf, bin auf Kriegsfuß mit dem Leben.

Auf Kriegsfuß mit mir selbst.

Ich kann nicht sagen ob das mit der Chemo zusammenhängt oder einfach eine Laune ist.

Heute geht es mir jedenfalls nicht wesentlich besser. Wenn es eine Phase ist, dann hält sie länger an als gewöhnlich.

Doch auch jene Phasen gehören dazu und wollen gelebt werden. Ja, vielleicht sogar genossen werden.

Auch die Zeit in der es mir schlecht geht, in der ich mies drauf bin, in der ich mich selbst vielleicht nicht mag… Auch diese Zeit hat ihre Daseinsberechtigung und es ist wichtig auch diese Geschenke anzunehmen.

Was macht man mit solchen Tagen? Ablenkung? Stille?

Einfach warten bis es vorbei geht, getreu dem Motto „Es wird schon alles wieder gut werden“?!? Einfach so…?

An diesen Tagen klopfen die ganzen Leichen an unsere Tür, die wir die ganzen Jahre im Keller verstaut haben. All der Selbsthass, die Selbstzweifel, all die Ängste. Sie klopfen und scharren an der alten Holztür die unsere scheinheilige Alltagswelt von unserem Unbewussten trennt.

Manchmal macht man dann die Musik lauter oder geht im Garten eine rauchen. Dann hört man das Klopfen und Scharren nicht mehr und nach einiger Zeit vergisst man sogar was eigentlich los ist.

An manchen dieser Tage geht man aber auch mal näher ran, an diese Tür. Und man lauscht. Und man berührt die Tür und man fühlt.

Beim nächsten mal gibt man den Leichen Namen. Da ist eventuell eine Leiche namens „Trauer“. Und ihr Kumpel „Wut“.

Und irgendwann dann hat man soviel Mut und Zutrauen gewonnen, dass man die Tür einen Spalt breit öffnet. Und noch ein Stück weiter. Und man stellt sich seinen „Dämonen“…

Ich glaube dieser Prozess ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der Bewusstwerdung durch eine ernst zu nehmende Krankheit. Dies beziehe ich zwar auf mich, allerdings glaube ich, dass dies immer zutrifft.

Wenn wir uns nicht freiwillig der Bewusstwerdung zuwenden, werden wir  Wenn ich mich nicht freiwillig der Bewusstwerdung zuwende, werde ich halt auf „anderem Wege“ von ihr erfasst. Es gibt dem kein Entrinnen, genauso wenig wie ein Grashalm sich dagegen wehren kann gen Sonne zu wachsen.

Es gibt nichts als das Leben und alles in ihm entspringt ihm auch. Das ist so offensichtlich und dennoch wehre ich mich ständig dagegen.